Der Föderalismus in Deutschland hat seine Wurzeln in der mittelalterlichen Welt der regionalen Herrschaften, der Kurfürsten und der Erzbischöfe. Und schon damals hatte der Föderalismus Vor- und Nachteile. Jedes kleine „Ländle“ war auf seine Rechte und seine Unabhängigkeit bedacht, lokale Kriege waren an der Tageordnung, insbesondere wenn der Bundespräsident, damals natürlich der Kaiser, sich mal wieder in Italien herumtrieb. Diese Kleinteiligkeit und dieser Wettbewerb untereinander hatte auch Vorteile: jedes kleine „Residenzstädtchen“ hatte sein fürstliches Theater und Orchester. Das belebte die Kultur- und Denkerszene ungemein. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ging bald jeder zweite Nobelpreis nach Deutschland und noch heute ist Deutschland das Land mit den meisten Patentanmeldungen pro Mio. Einwohner. Deutschland, nicht mehr das Land der Dichter und Denker (oder der Richter und Henker), sondern das Land der Tüftler und Erfinder? Mag sein.
Der Föderalismus hatte und hat aber auch gravierende Nachteile: die ewige Zwietracht untereinander, der Neid. Der Dreißigjährige Krieg 1618 bis 1648 hat sich tief in die deutsche Seele eingegraben, auch wenn das vielleicht niemand wahrhaben will. Ausländische Mächte haben sich in Deutschland ausgetobt und die Menschen „fremdbestimmt“, sofern sie noch lebten. Ganze Landstriche waren entvölkert, Städte zerstört – sozusagen wieder mal ein Zusammenbruch des Lebens. Diese Erfahrungen finden sich noch lange in den Erzählungen der nächsten Generationen, während Musik, Literatur und überhaupt die „Aufklärung“ zur Blüte gelangten.
Die nächste Schockerfahrung war, dass die Französische Revolution durch Napoleon gleich wieder zunichte gemacht wurde. Napoleon weckte den Nationalismus in Deutschland. Die Gegenreaktion gegen die Fremdbestimmung wurde sogleich „Befreiungskriege“ genannt, führte aber letztlich in eine tiefe Frustration durch die Restauration – nur beschönigt durch das Biedermeier und die Romantik. Viele vergessen gern, dass Napoleon Deutschland wirklich vorangebracht hat, wenn auch unter vielen Opfern. Selbst die Deutsche Revolution von 1848 scheiterte und es begann die „Blut und Eisenzeit“, die durch die Aufrechterhaltung einer völlig überholten Monarchie direkt in die Katastrophen und die Verblendung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte. Versailles gab dem 1919 nur eine noch radikalere Richtung.
Der Föderalismus überlebte.
Nicht nur das, er zeigt, neben seinen guten Eigenschaften, auch nach dem erneuten Zusammenbruch der Zivilisation, 1945, immer noch seine Schwächen. Die Diskussion, ob es vor 45 zivilisiert zuging, möchte ich hier nicht lostreten. Aber statt Zusammenbruch kann man auch „Befreiung“ setzen.
In Sachen Föderalismus-Folgen möchte ich insbesondere das mitunter fatale und wirre Handeln in der gegenwärtigen Pandemie nennen. Warum haben immer noch die „Landesfürsten“ das Sagen? Durch das Medienrauschen in der Pandemie wurde eine weitere Katastrophe in den Hintergrund gedrängt, nämlich die Bildungskatastrophe. Jedes „Ländle“ werkelt an seinen Bildungsinstitutionen in seinen engen Grenzen. Über den Tellerrand blicken nur wenige. Schulen werden „dauerreformiert“. Ein Experiment reiht sich an das nächste. Was das für den einzigen wichtigen Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich eine gute und solide Allgemeinbildung, bedeutet, kann sich jeder selbst ausrechnen und an manchen Stellen bereits erleben. Hier wäre eine „Fridays for Future“-Bewegung hilfreich, vielleicht sogar bitter nötig.
Viele Folgen werden durch den gegenwärtigen Wohlstand (noch) aufgefangen. Das kann sich aber in einigen Generationen schon ändern. Niemand sollte vergessen: ein Welt-Arbeitsamt gibt es nicht und ein Welt-Sozialamt erst Recht nicht. Als Deutschland noch ein nicht-industrialisiertes, ländliches, agrarisches und von einer rauhbeinigen Aristokratie regiertes Konglomerat war, musste regelmäßig die Hälfte der Bevölkerung auswandern und irgendwo in der Welt sein Auskommen suchen. Noch heute hat fast jeder dritte US-Amerikaner Vorfahren, die Deutschland irgendwann verlassen haben. Und das nicht immer freiwillig oder aus Abenteuerlust.