Wie haben meine Eltern das Kriegsende erlebt oder überstanden? Wenn ich es mir recht überlege, dann hat diese Generation Zeiten und Katastrophen erlebt, von denen wir nicht die mindeste Ahnung haben. Wir können versuchen uns in diese Erlebnis- und Erfahrungswelt hineinzudenken, ohne Scheuklappen und dem Wissen der Jetztzeit, und wir können vielleicht nachvollziehen, warum der eine oder die andere in den Jahren so und so gehandelt hat oder geworden ist. Trotzdem sind es hilflose Erklärungsversuche.
Meine Mutter, Jahrgang 1929, kam im Herbst 1944 aus dem angeblich freiwilligen Landjahr aus Schlesien zurück und wollte eine Ausbildung zur Kindergärtnerin beginnen. Drei, vier Wochen Ausbildung und dann wurde die Schule geschlossen. Der Krieg kam näher. Am 26. April 1945 rückten die Engländer ein, nachdem sie vorher nochmal kräftig Bomben geworfen hatten. Eine diese Bomben landete als Volltreffer auf dem Haus meiner Großeltern in der Neustadt. Sie hatten, wie auch nach dem ersten Ausbomben 1942, wiedermal alles verloren. Meine Mutter hatte auch viele Freundinnen verloren, im Nachbarhaus, alles erstickt. Es musste weitergehen. Opa sammelte unter erschreckenden Lauten brauchbares Geschirr aus den rauchenden Trümmern. Unterschlupf fand die Familie in der Isarstrasse. Auch meine Mutter fand eine Lehrstelle als Schneiderin in der Wachmannstrasse. Das war nicht ihr Traumberuf, aber immerhin. Der Weg von der Neustadt in die Wachmannstrasse war ein täglicher Hindernislauf, da alle Brücken gesprengt waren und es nur eine Behelfsbrücke noch gab. Sie lernte schnell und viel, aber sie behielt lebenslang Magenschmerzen zurück, weil die Lehrherrin, Fräulein I., sich immer noch als „Herrin“ in ihren unzerstörten Haus verhielt.
Aber lebenslustig, wie Muttern mit 16 oder 17 nun mal war, fand sie schnell Gefallen an den neuen Möglichkeiten und Freiheiten. Mit ihrer Freundin Inge zusammen machten sie das, was junge Menschen nun mal überall auf der Welt tun. Sich amüsieren, tanzen und vielleicht auch nach Männern schauen. Mehrfach wurden sie „einkassiert“, weil sie sich nicht an Ausgangssperren hielten. Die „Zone“ bis rauf nach Bremerhaven stand ihnen offen. Ein beliebter Treffpunkt war „Kutscher Behrens“ in Falkenberg und viele Geschichten rankten um dieses Tanzlokal und die Fahrten dorthin mit „Jan Reiners“, der kleinen Bimmelbahn. Irgendwann hat sie dort meinen Vater kennengelernt.
Mein Vater Heinz Rudolf, Jahrgang 1926, durchlief praktisch alle Stationen, die für diese Jugend so typisch waren, insbesondere als Schüler eines Gymnasiums (Olbersschule mit Notabitur). Hitlerjugend („Wir hatten tolle Heimabende!“), Flakhelfer im Blockland, Arbeitsdienst in Lüneburg. Das war 1943 im Sommer und er wurde zu Aufräumarbeiten nach Hamburg abkommandiert. Was er dort als Folge der „Gomorrha-Operation“ gesehen hat, hat ihn nie wie der losgelassen. Darüber konnte er nie sprechen. Über alles andere ja. Ende 1943 musste er Soldat werden. Er hat sich standhaft geweigert in die SS zu müssen, was eigentlich, wie er sagte, ganz normal gewesen wäre. Er ging zur Infantrie. Zunächst nach Norwegen mit „Bewachungsaufgaben“ (u.a. die Fabrik für Schweres Wasser). Eine Rippenfell-Entzündung kurierte er in Esbjerg (Dänemark) aus, um dann nach Frankreich kommandiert zu werden. Dort traf er Ende Mai 1944 ein. Genau pünktlich, um die Landung der Alliierten und die schweren Kämpfe in der Normandy mitmachen zu müssen. Was er dort, insbesondere bei den Kämpfen um Caen miterlebt hat, würde heute ganz sicher viele Menschen „mental“ überfordern. Er hat mit mir ganz offen darüber gesprochen. Da fing er an von einem Häuschen auf dem Lande zu träumen. Gerade 18 geworden geriet er mitten hinein in die sog. „Operation Totalize“ der Engländer und Kanadier. Am 7. August an der Strasse Urville nach Breville wurde er schwer verwundet, nach dem er den Rückzug seiner Kameraden so lange wie möglich gedeckt hat. Seine Einheit ist noch raus und nach Hause gekommen. („Fallaise-Gap“)
Mein Vater hätte nicht überlebt, hätte nicht ein Kanadier, Kommandant einer Panzerspähwagens, ihn auf der Ladefläche des Panzern in ein Frontlazartett gefahren. „Give him a zigarette!“, hat er gesagt. Mein Vater hätte viel darum gegeben diesen Kanadier noch einmal zu treffen.
Kurze Zeit später wurde er auf einem einfachen Landungsboot über den Kanal transportiert. Er erzählte, wie er benommen mitbekommen habe, dass die Geistlichen an Bord streng nach Konfession ihren Segen verteilt hätten. Schwer verletzt, aber überlebt, kam er in ein Gefangenlager bei Liverpool. Namen wie Dr. Gucci und Schwester Sharky (verliebt?) spielen von da an eine Rolle. Die Wette mit Dr. Gucci, dass er außerhalb des Lagers einen Weihnachtsbaum würde besorgen können, hat mein Vater gewonnen. Dr. Gucci ließ ein Fass für das Lager springen. Besonders beeindruckt war er davon, dass er tatsächlich Englands künftiger Königin Elisabeth bei einem Besuch im Lazarett die (linke) Hand schütteln durfte. Sie sei sehr freundlich gewesen.
Im Februar 1945, mitten im Krieg, wurde mein Vater ausgetauscht. Mit der „Arundel Castle“ rund um Gibraltar über Marseilles durch die Schweiz und das immer noch intakte Schienennetz nach Bremen. In Marseilles wären die Gefangen beinahe erschlagen worden, hätten nicht schwarze GIs sie beschützt. Kaum in Bremen angekommen, wurde er zu einer „Fortbildung“ ins Josephstift kommandiert. Irgendein Bonze hielt einen Vortrag „Leere Wiegen, leere Kasernen“. Was für eine Idiotie in diesen Tagen. Wieder zu Hause, in der erfreulicherweise heilen Tözerstrasse, zeigt mein Opa ihm einen Gestelltungsbefehl nach Neumünster, und zerriss ihn dann. Du weißt von nichts.
Als besonders tragisch erwähnte mein Vater den letzten Tieffliegerangriff auf die Bunker in der Neukirchstrasse. Hunderte Menschen, Mütter mit Kindern seien dort bei der Milchausgabestelle getroffen worden. Dann fuhr auch schon ein englischer Panzer durch Findorff.
„Der Krieg war für mich aus, als ich den Union-Jack aus dem Toilettenhäuschen am Bürgerpark hängen sah. Da wusste ich: Es ist vorbei“, sagte mein Vater gern. Die Engländer seien immer fair gewesen.
Ein paar Tage nach Kriegsende wurde Bremen amerikanisch. Weil er auf der Polizeiwache in der Fürther Str. von mehreren GIs ohne Rücksicht auf seine Verletzungen hart zusammengeschlagen wurde („Du Nazi, Du Hitlerjugend!“), war er auf die Amis nie mehr richtig gut zu sprechen. Mein Vater fiel im übrigen unter die Jugendamnästie. Seinen eigentlichen Berufswunsch, nämlich Förster, durfte er nie ausüben. Das sagte man ihm aber erst bei der schriftlichen Prüfung in Hannover. Das Schreiben mit Links musste er sich erst jahrelang, mühsam wieder aneignen. Sein Vater, mein Opa, hat ihn dann bei der Finanzverwaltung Bremen untergebracht. Das war eine sichere Arbeit als Beamter, aber glücklich ist er da nie geworden.
Aber dann gab es ja auch noch „Kutscher Behrends“, hin und wieder kam ein Schulfreund aus dem Krieg zurück. Und es gab Margrit, meine Mutter.
Ich bin ein wenig stolz darauf, dass meine Eltern offen über alles mit mir, auch als ich jünger war, gesprochen haben. In meiner Familie gab es nicht die eisige Stille, wenn es um die Vergangenheit ging, wie es sie in vielen Familien gab. Es gab aber auch dieses „Warum habt Ihr nicht?“, bis ich begriffen habe, dass sie selbst ja noch Kinder auf dem Weg zum Jugendlichen waren. Junge Menschen, mit dem Willen zu leben, zu lernen, zu arbeiten und zu lieben.
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