Die ukrainische Lyrikerin Halyna Kruk hat diese Rede am 17. Juni 2022 anlässlich der Eröffnung des vom Haus der Poesie kuratierten 23. Poesiefestivals in der Akademie der Künste in Berlin gehalten:
Im Juni 2014 habe ich, während die russischen Panzerkolonnen in die ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk rollten, auf einer Lesung im guten alten Europa gesagt, in einer Situation wie dieser könnten wir Ukrainer nur schwer über Dichtung sprechen. Woraufhin sich die Moderatorin – eine 30-jährige Russin aus Berlin – dazu aufschwang, mich darüber zu belehren, dass Dichtung jenseits des Krieges stünde, dass die große russische Kultur über den Krieg erhaben sei, dass Zwetajewa, Achmatowa oder auch Pasternak sich nie zu solchen profanen, trendigen Themen wie Krieg herabgelassen hätten, sie hätten in die Ewigkeit geschaut, seien über all das erhaben gewesen. Und was hätte das überhaupt mit Russland zu tun? Acht Jahre lang haben wir versucht, uns Gehör zu verschaffen: Hey, bei uns ist Krieg, ein Teil unseres Landes ist besetzt, jeden Tag werden hier Menschen getötet. Wir wurden gemaßregelt und belehrt, als wären wir bockige Kinder: Ihr dürft nicht zurückschießen, dann hört es auf, zeigt euch klüger, seid erhaben.
Acht Jahre lang hat Russland militärisch aufgerüstet und sich auf den vollumfänglichen Einmarsch vorbereitet, der Appetit ist gewachsen. Die russländischen Dichter haben weiter verbissen in die Ewigkeit geschaut und dabei nicht gemerkt, wie ihr Land zu einem autoritären Staat geworden ist, der die Demokratie imitiert und zugleich das Narrativ von der eigenen Größe pflegt. Wer gar nicht mehr zurechtkam, ist emigriert und hat weiter die russische Kultur präsentiert wie eine hehre Fassade Russlands. Ich nehme an, Ihnen, die Sie mit den besten Zeugnissen russländischer Kultur aufgewachsen und vertraut sind, werden meine Worte nicht gefallen. Sie brauchen ihnen auch nicht zu glauben, wie auch die Bewohner von Borodjanka, Hostomel und Butscha bei Kyjiw nicht glauben wollten, dass die Russen gekommen waren, um sie, die unbewaffneten Zivilisten, zu töten, ohne Grund, ohne Ursache, ohne Unterschied. Männer oder Frauen, Kinder und alte Leute. Töten, vergewaltigen, plattmachen. Ich wüsste keine Metaphern, mit denen man diese Worte attraktiver oder doch immerhin weniger schockierend wirken lassen könnte.
Wenn kein Gedicht hilft
Gegen Leute mit Maschinengewehren helfen keine Metaphern. Wenn dein Auto, mit dem du und deine Kinder dem Krieg zu entfliehen versuchen, von einem Panzer überrollt wird, hilft kein Gedicht. Wenn du tagelang vor dem verschütteten Keller eines Hochhauses ausharrst und hörst, wie drinnen deine Kinder und Enkel schreien, du sie aber nicht rausholen kannst, ist Poesie fehl am Platze. Die Geschehnisse sind ein starker Stoff, darüber könnte ein europäischer Autor ein Buch für die Ewigkeit schreiben, das noch und noch gelesen wird. Aber jemand, der das selbst erlebt hat, wird dieses Buch nicht schreiben. Denn keiner hat die Kraft, all das durchzustehen und anschließend anderen diesen Schmerz zu erklären.
Der Krieg reißt einen Graben auf zwischen denen, die ihn erlebt haben, und denen, die sich in sicherer Entfernung befinden. Ich sehe, dass es mit jedem Tag schwerer wird, Außenstehenden zu erklären, was wir, die wir mittendrin sind, empfinden. Und mein Bedürfnis, etwas zu erklären, schwindet. Wir sprechen eine Sprache, die immer unverständlicher wird, uns ist nicht nach Dichtung. Wenn dein Mann an der Front ist, ein Teil der Verwandtschaft der furchtbaren Besatzung im Gebiet Cherson unterworfen ist und die anderen im Gebiet Charkiw unter Dauerbeschuss stehen; wenn du ständig auf den nächsten Luftalarm gefasst sein musst, weil dann manchmal wirklich was angeflogen kommt, das tötet – dann ist es schwer, erhaben zu sein. Dichtung fasst sich dann in eigenen Formen, als spontanes Gebet, als Lamento oder sogar Fluch wider den Feind. Der zeitgenössischen europäischen Dichtung sind diese Formen der Dichtung fremd, sie sind funktional und rituell, äußerst kreatürlich in ihren Emotionen, überaus subjektiv, sehr pathetisch und intolerant. Es ist schwer, einem Feind gegenüber tolerant zu sein, der dich oder deine Kinder tötet. Wenn er nämlich die einen getötet hat, nimmt er sich die nächsten vor. Ich glaube nicht, dass Sie darüber erhaben sein könnten.
Gegenwärtig ist ein Fünftel meines Landes vorübergehend besetzt. Und leider ist das keine Metapher. Die Menschen aus den besetzten Gebieten werden getötet, terrorisiert, in Filtrationslager nach Russland verschleppt, Eltern und Kinder getrennt, entnationalisiert. Keine Dichtung hat dafür Worte. Auf meinem Facebook-Thread wimmelt es von Fotos von unglaublich schönen Menschen – Männer und Frauen, Eltern, Kinder, die von Russland ermordet worden sind. Das ist keine Metapher. Facebook blockiert oder entfernt diese Fotos als Information mit einem sensiblen Inhalt, der die Nutzer der sozialen Medien verstören könnte. Diese Menschen sind nicht zur Welt gekommen, um im Krieg zu sterben, sie haben nicht ihren Hochschulabschluss gemacht oder ein kleines Fach studiert, um im Krieg zu sterben, haben nicht ihre Talente entfaltet, um im Krieg zu sterben. Der Verlust dieser Menschen reißt eine klaffende Wunde, die bleibt – in unseren Seelen, in unserer Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Industrie, Gesellschaft. Das ist keine Metapher.
Ich kenne keine Dichtung, die diese Wunde heilen könnte. Dieser Krieg bringt uns alle um, jeden auf seine Weise, obwohl wir äußerlich vielleicht heil und unversehrt aussehen, doch wir bewegen uns jetzt in kleinen Sprüngen fort, selbst in einem offenen Raum, unter lauten Tönen zucken wir zusammen und unsere kleinen Kinder, die die Erfahrung machen mussten, unter Beschuss im Keller zu sitzen, weinen nicht, wenn sie Angst haben. Selbst die Kleinsten wissen schon, dass Weinen sie das Leben kosten kann. Und auch das ist keine Metapher.
Der Krieg vereindeutigt alles in einem Maß, dass für Dichtung praktisch kein Raum mehr bleibt. Nur noch für Zeugenschaft.
Unsere russländischen Kollegen schaffen unterdessen anrührende und tiefe Dichtung für die Ewigkeit, an einem sicheren Ort, in der Emigration, wo nicht geschossen wird, den künstlerischen Zugang im Blick und ohne Ablenkung durch den Schmutz und die Widrigkeit der Wirklichkeit. Und weder eine Sirene noch Geschosse noch ein Besatzer mit einem Maschinengewehr oder einem Panzer halten sie von ihrem konzentrierten Schaffen ab.
Leider kann Dichtung nicht töten.
Die ukrainische Lyrikerin Halyna Kruk hat diese Rede am 17. Juni 2022 anlässlich der Eröffnung des vom Haus der Poesie kuratierten 23. Poesiefestivals in der Akademie der Künste in Berlin gehalten. Halyna Kruk wurde 1974 in Lwiw geboren, sie ist Dichterin, Prosaautorin, Übersetzerin aus dem Polnischen und Literaturwissenschaftlerin.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe erschienen bei ZEITonline