Diesen Standardsatz vieler Deutscher nach Kriegsende müsste man mal genau untersuchen, und zwar ohne den wissenden Blick der später Geborenen. Fakt ist, dass Deutsche zu jeder Zeit bei Rot an der Ampel stehen, auch wenn es nachts um 2 Uhr und niemand weit und breit zu sehen ist. Und wenn Rot noch als „volksschädlich“ oder „wehrkraftzersetzend“ mit dem Tode bestraft wird, dann möchte ich den Jetztmenschen sehen, der ohne Bedenken sofort losläuft.
Wir leben in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat, in dem die Würde des Einzelnen unverletztlich ist – zumindest nicht folgenlos. Und wir haben Informationen aus unterschiedlichsten Quellen, frei und jederzeit zugänglich – wenn auch nicht immer korrekt. In der brauen Zeit gab es nur ideologisch und rassistisch verseuchten Einheitsbrei in den Zeitungen, im Kino und im „Gleichwellenradio“. Was anderes gab es nicht bzw. war nicht zugänglich. Wer dennoch etwas anderen sehen, lesen oder hören wollte, stand wieder an der roten Ampel. Viele haben die BBC mit ihrem Leben bezahlt oder auch nur die Musik vom falschen Orchester. Selbst ein Witz oder eine Bemerkung in die falschen Ohren, konnte den Tod bedeuten. Ein Großonkel von mir – ein humorvoller Vogel – war 1941wegen eines Hitlerwitzes denunziert und 1 1/2 Jahre im KZ. Bei seiner Entlassung, es wurde dringend Kanonenfutter gebraucht, musste er unterschreiben, dass er nie und niemandem gegenüber ein Wort über die 18 Monate KZ verliert. Der nächste Laternenmast wäre seiner gewesen. Er hat erst 10 Jahre nach Kriegsende über die Zeit gesprochen und das auch nur im engsten Familienkreis.
Das Grauen von Auschwitz war und ist einfach unvorstellbar. Und es wird immer grauenhafter, je mehr wir darüber erfahren. Menschen, die damals vielleicht etwas gesehen oder gehört haben, konnten es sich nicht vorstellen … eine kultivierte Nation, das kann nicht wahr sein! Verdrängung ist ein Mechanismus, um mit der eigenen Situation zurechtzukommen. Und die eigene Situation erforderte viel Aufmerksamkeit, um zu überleben. Deutschland fiel und Schutt und Asche. Millionen Ehemänner, Söhne, Freunde, Nachbarn waren tot, gefallen, vermisst. Jeder war mit sich und dem eigenen Überleben beschäftigt.
Der 8 Mai 1945 war der Zusammenbruch, weil die Dinge des täglichen Lebens, die wir heute als selbstverständlich sehen, nicht mehr da waren oder funktionierten: Wasser, Strom, das Dach über dem Kopf, Essen, Post, Eisenbahn usw. – nichts war wie es sein sollte. Es fielen keine Bomben mehr. Das zählte. Die Stille, so erzählten viele, war körperlich spürbar. Dass mit dem Zusammenbruch auch ein finsteres Regime, die Nazi-Diktatur, hinweggefegt wurde. war erst einmal zweitrangig. Für Millionen Menschen in Europa aber war es eine Befreiung von der Tyrannei der Nazis. Freiheit! Auch für Deutschland war dieser Tag ein Tag der Befreiung. Flüchtlinge, Heimatvertriebene oder Menschen, die nach diesem Tag noch vom Leben befreit wurden, sehen das vielleicht verständlicherweise anders. Bleibt aber die Frage, warum sich Deutschland nicht selbst befreien konnte.
Erst einmal musste aufgeräumt werden, um mit dem wirklichen Aufräumen zu beginnen. In Nürnberg sassen die Richtigen auf der Anklagebank, wenn auch der bittere Beigeschmack von Siegerjustiz in der Luft liegt. Warum war der deutsche Widerstand, denn es ja doch gab, nicht beteiligt? Vielleicht gabe es zu wenige Stauffenbergs, Scholls, Eislers, um nur einige zu nennen?
Bei zu vielen aber hat man weggeschaut, weil man sie brauchte oder ihr Wissen haben wollte. Mit diesen Schuldigen der zweiten Etage – Ärzte, Juristen und Apparatschiks des brauen Regimes – musste sich die junge Bundesrepublikum lange herumschlagen. Das Wirtschaftswunder hat auch dafür gesorgt, dass der Muff unter den Talaren und die Reaktion erst mit den 68ern hinweggefegt werden konnte – leider aber auch mit der RAF.
Ich denke der Holocaust ist Verpflichtung für alle Deutschen, und nicht nur die, darauf zu achten, dass sich soetwas nie wiederholen kann. Das bedeutet hellhörig sein und den Anfängen wehren. Leider wiederholt sich Geschichte ständig. Sie kommt aber meist in einem anderen Gewand daher und ist somit nicht so schnell zu erkennen. Trotz allem gilt nach wie vor: Bildung ist der beste Schutz vor Rassismus, Extremismus und Idiotie.