Ein allein auf Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen ausgerichtete Ansatz schafft keine europäische Identität, er zielt lediglich auf die Kooperation von Nationalstaaten. Kramp-Karrenbauer hat keine Idee von Europa, zumindest keine, die man akzeptieren könnte. Es ist manchmal unverständlich, wenn sie spricht. Daher muss man fast dankbar sein, dass sie sich jetzt schriftlich geäußert hat. Am Wochenende antwortete die Fast-schon- oder Möchtegern-Kanzlerin in der „Welt am Sonntag“ auf den europäischen Appell des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
1. Macron schlägt ein gemeinsames Sozialsystem vor, in dem alle Menschen in Europa Anspruch auf soziale Grundsicherung haben, auf gleiche Bezahlung am gleichen Arbeitsplatz und einen an jedes Land angepassten Mindestlohn. Kramp-Karrenbauer bürstet diese Ansinnen ohne viel Federlesens ab, sie wären „der falsche Weg“.
2. Macron will die Reduzierung der CO2-Emissionen auf Null bis 2050 und 50 Prozent weniger Pestizide bis 2025 festschreiben. Annegret Kramp-Karrenbauer hält davon wenig: „Mit ambitionierten Festlegungen europäischer Ziele und Grenzwerte ist allerdings noch nichts erreicht.“ Tja, aber wie denn sonst? Während Macron alle politischen Anstrengungen, alle EU-Institutionen dem Ziel des Klimaschutzes unterordnen möchte, hat Kramp-Karrenbauer vor allem den Schutz der Wirtschaft im Sinn. Macron hat begriffen, dass es ohne ernsthaften Klimaschutz bald keine Grundlage mehr für erfolgreiches Wirtschaften geben wird. Kramp-Karrenbauer offenbar nicht.
3. Wenn Macron die Idee eines Europäischen Sicherheitsrates betont, in dem gemeinsam die Verteidigung Europas organisiert werden soll, fällt Kramp-Karrenbauer sogleich ein, dass übrigens auch ein „Nationaler Sicherheitsrat“ in Deutschland eine „sehr bedenkenswerte Idee“ sei.
4. Der Franzose will mehr Gemeinsamkeiten, AKK meint, dass ohne die Nationalstaaten“ nichts geht. Macron arbeitet auf eine tatsächliche europäische Integration hin. Kramp-Karrenbauer möchte zurückgehen, hin zu einer vor allem wirtschaftlich ausgerichteten Zusammenarbeit mit gemeinsamer, strikter Grenzsicherung. Zurück zu einer EWG mit gemeinsamer Verteidigung, aber ohne dabei, wie noch Helmut Kohl, das große europäische Aussöhnungs- und Friedensprojekt im Auge zu haben, und ohne die Bereitschaft, den deutschen Wohlstand zu teilen.
5. Das Wort „Solidarität“ findet sich in ihrer Antwort an keiner Stelle, sie fordert lieber einen „Binnenmarkt für Banken“.
Bei all diesen Quergedanken sollte man nicht vergessen: Die Wähler haben es in der Hand. Soll es mit Europa vorangehen oder zurück.