„Ich war so alt, wie ihr jetzt seid, als ich nach Grasberg gekommen bin“, sagte sie und Barbara Zarzecka, die polnische Lehrerin, übersetzte. „Ich bin in Szamocin zur Schule gegangen.“ Dann hielt sie ein Bild hoch von der Schule, die sie besuchte. Das Gebäude existiert noch. Acht Kilometer entfernt habe sie gewohnt, in Weißenhöhe, dem heutigen Bialosliwia. Ihr Großvater und Vater betrieben die Dachdeckerei Körber. Im Krieg wurde der Vater eingezogen, die Kriegswirren selbst wurden, soweit möglich, von den Kindern fern gehalten, erzählte Gehlken. In der Nacht zum 21. Januar 1945 packte Mutter Körber einen Wäschekorb mit Federbetten, Kopfkissen und Decken, zwei guten Anzügen für den Vater, wenn er aus dem Krieg heimkehrte, und Besteck für vier Personen. Im Morgengrauen weckte sie Edeltraut und ihren Bruder, die Kinder mussten viele Sachen übereinander anziehen, so viel eben ging. Einen Koffer voller Lebensmittel nahmen sie mit, darin eine Mettwurst. Dann ging es zum Bahnhof. Mit Zug und
Viehwagen flohen die Körbers bis Osterholz, von dort aus wurden sie mit dem Pferdefuhrwerk nach Grasberg gebracht. Hier fanden sie eine neue Heimat. „Ich hatte Glück, dass die neue Heimat der alten landschaftlich so ähnlich war“, sagte Gehlken.Am Anfang standen Kartons voller Briefe und Fotos …
Am Anfang standen Kartons voller Briefe und Fotos, die von den polnischen Schülern in Szamocin zur Findorffschule nach Grasberg geschickt wurden und von dort zurück nach Polen. So entstand ein Briefwechsel, der sich zu einem ständigen Schüleraustausch entwickelte. Annette Baro, die den Schüleraustausch auf deutscher Seite leitet, organisierte im Rahmen einer Projektwoche der Klasse R5b fünf Tage des Zusammenseins. Jüngst gab es nun einen Freundschaftsabend mit Eltern und Gästen. Als ganz besonderen Gast stelle Annette Baro Edeltraut Gehlken vor, die 1945 mit zehn Jahren aus Scamocin nach Grasberg gekommen ist.
Als 1998 der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund einen Ort mit ähnlicher Gemeindestruktur für eine Partnerschaft mit Szamicin suchte, fiel das Augenmerk auf Grasberg. Ein erstes Treffen der Bürgermeister fand statt und seitdem sind zwischen den beiden Gemeinden ein reger Austausch und Freundschaften entstanden. Begonnen hat es mit einem Fußballturnier, das Barbara Zarzecka mit vier Schülern begleitete. Polnische und deutsche Lehrer und Schüler lernten sich kennen. 2009 organisierte der Seniorenbeirat eine Reise nach Szamocin, an der auch Edeltraut Gehlken teilnahm. Dort wurde sie von Barbara Zarzecka empfangen und nach Bialosliwia gefahren. 2010 gab es einen Schüleraustausch, es besuchten sich die Chöre. 2012 reisen die Freiwillige Feuerwehr und ein Spielmannszug nach Szamocin, und auch die heutige fünfte Klasse wird einen Gegenbesuch antreten, wenn sie eine siebte Klasse ist. „Solange Barbara und ich im Schuldienst sind, wird das garantiert nicht aufhören“, sagt Annette Baro.
Bürgermeisterin Marion Schorfmann hebt hervor, dieser rege Austausch zwischen den Gemeinden helfe dabei, Barrieren aus dem Weg zu räumen. „Menschen, die miteinander gefeiert haben, die sich die Hand gegeben haben, die lassen sich nicht mehr so einfach auseinander dividieren.“
Vor zwei Wochen war sie mit einigen Grasbergern in Szamocin, berichtete Schorfmann, und zum Sommerfest in Schmalenbeck erwarte die Gemeinde acht Gäste von dort. Auch Edeltraut Gehlken überlegt, ihre Freundin Lydia in Bialosliwia noch einmal zu besuchen. Als sie das erste Mal 1989 dort war, nahm sie fünf Kastanien mit nach Grasberg. Daraus sind längst stattliche Bäume geworden, die in der Adolphsdorfer Straße stehen und an Bialosliwia erinnern. [Von Ines Prager]